Machiavelli ist aktueller denn je – Ein Gespräch mit Professor Gerhard Blicke, Rheinische Friedrich-Wilhelm-Universität Bonn
Norbert Froitzheim: Wir befinden uns in einer Welt des fundamentalen Wandels, die Zeit einer unipolaren Weltordnung mit einem „wohlmeinenden Hegemon“ scheint zumindest vorerst vorbei. Welche Grundideen Machiavellis sind nach Ihrer Ansicht für das Verständnis moderner Machtpolitik bis heute noch relevant?
Professor Gerhard Blickle: Machiavelli war ein Politikpraktiker. Er hat seinen Stadtstaat Florenz in den Verhandlungen mit dem französischen König und dem deutschen Kaiser vertreten. Er war auch eine Zeit lang für die Organisation der Verteidigung und des Militärs seiner Heimatstadt verantwortlich. Er wusste also, wovon er sprach bzw. schrieb. Für ihn hatte die Sicherstellung der Verteidigungsfähigkeit seines Stadtstaates durch die eigenen Bürger erste Priorität. Wenn ein Staat sich nicht selbst durch seine eigenen Bürger verteidigen kann, wird er, so Machiavelli, zum Spielball der politischen Interessen anderer. Er hat sich stark gegen das Outsourcen von militärischer Sicherheit ausgesprochen. Damals waren das bezahlte Milizen, die ein Staat anheuern konnte. Machiavelli aber war klar: Bezahlte Milizen verfolgen immer ihre eigenen Interessen und nicht die Interessen ihrer Auftraggeber. Das Outsourcen von Sicherheitsleistungen bringt keine wirkliche Sicherheit, sondern nur ein trügerisches Gefühl von Sicherheit.
Norbert Froitzheim: Wir haben in Gedanken an Machiavelli einen bestimmten Typus von Politiker vor Augen. Kann politische Macht ohne machiavellistische Denkweisen überhaupt existieren? Inwiefern muss das Handeln politischer Führer in Demokratien und Autokratien von diesen Prinzipien geleitet sein?
Professor Gerhard Blickle: Wenn man sich einen machiavellistischen Politiker vorstellt, steht die tatsächliche Skrupellosigkeit hinter einer Fassade von Wohlanständigkeit im Vordergrund. Es gehört jedoch noch ein weiteres wichtiges Merkmal dazu, das nicht immer nach außen dringt. Ein machiavellistischer Mensch ist zutiefst skeptisch und umgetrieben von Ängsten. Er unterstellt den negativsten Fall als den Normalfall. Das bezeichnet man als Zynismus. Er traut jedem und jeder alles zu. Deshalb predigt er Misstrauen gegen jedermann. Darin bestehen seine Stärke und seine Schwäche zugleich. Putin nie über den Weg zu trauen, war offensichtlich vollkommen richtig. Hätten aber die Franzosen (De Gaulle) und Amerikaner (Truman) nach dem Zweiten Weltkrieg den Deutschen nie wieder über den Weg getraut, hätte das Nachkriegseuropa nach 1945 nie blühen können, was zum Nutzen der Franzosen, Amerikaner und Deutschen war und ist. Was es braucht, ist glaubhafte vertrauensbildende Maßnahmen. Dazu gehören in einem benachbarten Land eine freie Presse, eine unabhängige Justiz, Gewaltenteilung und Machtwechsel durch demokratische Wahlen. In dem Maß, wie sich diese Strukturen in einem anderen Staat verflüssigen oder sogar auflösen, ist allerhöchste Vorsicht geboten. Aber es gibt keine Patentlösung. Denken Sie an den israelischen Ministerpräsidenten Rabin: Er war zu Verhandlungen mit dem ehemaligen Terroristenführer Arafat bereit und wurde von seinen eigenen Leuten, den Israelis, im Amt erschossen. Der beste Geheimdienst der Welt hat dieses Attentat aus den eigenen Reihen nicht verhindert. Das wäre wieder ein Punkt für Machiavelli: „Misstraue jedem, auch dem eigenen Geheimdienst.“
Norbert Froitzheim: Welche Parallelen sehen Sie zwischen Machiavellis Zeit des Umbruchs und den heutigen geopolitischen Verschiebungen und Spannungen im Inneren der meisten westlichen Demokratien?
Professor Gerhard Blickle: Ich sehe eher einen wichtigen Unterschied: Die Institutionen, zum Beispiel UNO, Internationaler Strafgerichtshof, humanitäres Kriegsvölkerrecht, um nur einige zu nennen, sind vorhanden. Ein solches internationales Regelwerk gab es damals nicht. Diese Institutionen müssen nicht erst erdacht werden. Aber keiner der mächtigen Staaten hält sich im Zweifelsfall daran. Allerdings: Die Amerikaner sind aus Afghanistan und dem Irak nach hohen eigenen Verlusten inzwischen wieder abgezogen. Deshalb kann man hoffen, dass durch entsprechende Verschleißung der russischen Ressourcen die Russen sich wieder aus der Ukraine zurückziehen werden. Vielleicht muss man abwarten, bis Putin gestorben ist. So war es ja auch mit dem Ende des sowjetischen Einsatzes in Afghanistan in den achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts.
Norbert Froitzheim: Ist Machiavellis Begriff von „virtù“, also Tatkraft, Entschlussfähigkeit und strategischem Realismus, in der Politik in Deutschland überhaupt erkennbar oder widerspricht er dem derzeitigen politischen Grundverständnis deutscher Politik?
Professor Gerhard Blickle: Diese Kritik an der deutschen Regierungspolitik ist oberflächlich. Warum wurde die NATO gegründet? „First of all, to keep the Russians out, second, to keep the Germans down, and finally, to keep the Americans in.“ Viele unserer Nachbarländer haben zweimal die schreckliche Erfahrung machen müssen, von Deutschland plattgewalzt zu werden. Deutsche Truppen standen 1940 plötzlich nicht nur in Prag, Warschau, Kopenhagen, Oslo, Den Haag und Paris, sondern eroberten auch erfolgreich Kreta. Die Genialität der bis heute andauernden großen amerikanischen Militärpräsenz in Europa ist, dass kein Nachbarland in Europa vor Deutschland militärisch etwas befürchten muss. Wenn Deutschland sein gesamtes militärisch technisches Potenzial entfalten würde, wären unsere unmittelbaren Nachbarn sehr beunruhigt. Die große Herausforderung an die deutsche Außenpolitik ist deshalb, to keep the Americans in (atomare Abschreckung), hoch abgestimmt mit unseren Nachbarn zu handeln (Vermeidung der Isolierung) und dafür zu sorgen, dass Russland sein Militärpotenzial in der Ukraine erfolglos verschleißt.
Norbert Froitzheim: Gerade was Deutschland betrifft, so scheint Machiavellis Idee „Der Zweck heiligt die Mittel“ in einem unauflösbaren Spannungsfeld zu den heutigen Vorstellungen von Transparenz und Ethik in der Politik zu stehen.
Professor Gerhard Blickle: Am Beispiel von Israels Vorgehen gegen die Hamas nach dem Überfall Israels durch die Hamas kann man Sinn und Grenzen einer solchen militärisch politischen Vorgehensweise gut erkennen. Die Hamas ist eine Mörderbande, gerade auch gegen das eigene Volk, und sie hat es geschafft, Israel auf der ganzen Welt durch sein Vorgehen gegen die Hamas zu isolieren. Es ist manchmal sehr schädlich für einen Staat, all das zu tun, was er kann. Also dem Rat zu folgen „Der Zweck heiligt die Mittel“ ist öfter nicht nur unmoralisch, sondern einfach ein großer politischer Fehler.
Norbert Froitzheim: Ist die Tendenz der deutschen Politik zur Konsensbildung als demokratische Tugend eher Stärke oder Schwäche im machiavellistischen Sinn? Würde Machiavelli die heutige deutsche Republik als stark institutionalisierten, aber schwach geführten Staat bezeichnen und was würde er zur Stärkung ihrer virtù raten?
Professor Gerhard Blickle: Es gibt kein Land auf der Welt, in dem mehr politische Konsensbildung betrieben wird als in der Schweiz. Ist die Schweiz deswegen ein schwacher Staat? Der Schweizer Staat entspricht sicher am meisten den Vorstellungen Machiavellis von einer intakten Bürgerschaft und einem funktionierenden Staat auf der heutigen Welt. Und zu einer funktionierenden Republik gehört auch eine intensive Debatte. Ich fürchte, wenn ich meinem Kollegen Sönke Neitzel folge, unser wirklich großes Problem ist die administrativ und ökonomisch effiziente und sachlich effektive Organisation der aktuellen Bundeswehr.
Norbert Froitzheim: Momentan beherrscht uns die Angst vor einem russischen Angriff auf Natogebiet in wenigen Jahren, davor drohte uns die unmittelbare Klimaapokalypse. Welche Rolle spielt Angst als politisches Instrument in der deutschen Innenpolitik, etwa in Fragen von Migration, Klima oder Sicherheit, und wie hätte Machiavelli das bewertet? Ist Angst im Sinne Machiavellis ein Hebel, Dinge politisch in Bewegung zu bringen?
Professor Gerhard Blickle: Machiavellistische Persönlichkeiten sind immer zutiefst durch Angst getrieben und von ihr geprägt. Sie nennen das dann Realismus. Denn Angst macht hellsichtig für Gefahren, führt aber auch dazu, dass die größten Energien in die Abwehr von Gefahren und nicht in das Erkennen von Chancen und den Aufbau neuer Optionen gesteckt werden. Helmut Schmidt hat deshalb zurecht und erfolgreich mit dem Slogan Wahlkampf gemacht: „Angst ist ein schlechter Ratgeber.“
Norbert Froitzheim: Moral wird positiv bewertet, Macht klingt in den Ohren vieler Menschen befremdlich. Wie wirkt sich nach Ihrer Ansicht Machiavellis Trennung von Moral und Politik auf gegenwärtige politische Entscheidungsprozesse aus? Welche Bedeutung hätte für Machiavelli das deutsche Festhalten an moralischer Legitimation in der Außenpolitik, etwa gegenüber Russland oder Israel, unabhängig von einer zweifellos vorhandenen geostrategischen Komponente?
Professor Gerhard Blickle: Der Anschein von Moralität ist nach Machiavelli eine wichtige politische Ressource, die wir heute als „soft power“ bezeichnen. Machiavelli schrieb in seinem Werk „Der Fürst“ dazu wörtlich: „Ein Fürst braucht nicht alle Tugenden zu besitzen, muss aber im Ruf davon stehen. Ja, ich wage zu sagen, dass es sehr schädlich ist, sie zu besitzen und sie stets zu beachten. Aber fromm, treu, menschlich, gottesfürchtig und ehrlich zu scheinen, ist nützlich. Daher muss er ein Gemüt besitzen, das sich nach den Winden und dem wechselnden Glück zu drehen vermag und zwar nicht vom Guten zu lassen, wo dies möglich ist, aber auch das Böse zu tun, wenn es sein muss. Denn der Pöbel hält es stets mit dem Schein und dem Ausgang einer Sache, und die Welt ist voller Pöbel.“
Mit Talleyrand würde ich dagegen argumentieren, dass Deutschland Interessen hat, nämlich Krieg in Mitteleuropa zu verhindern und einseitige Grenzverschiebungen durch Waffengewalt als undurchführbar zu etablieren. Dazu muss Deutschland zusammen mit anderen Staaten westlich von Russland eine hohe militärische Abschreckung aufbauen und der Ukraine immer so viele Waffen liefern, dass sich Russland im erfolglosen Angriff verschleißt. Auch in Bezug auf Israel hat die Bundesrepublik Deutschland Interessen: Die Unterstützung für den demokratischen, multiethnischen und multireligiösen Rechtsstaat Israel als solchen ist Ausdruck der Glaubwürdigkeit deutscher Außenpolitik in aller Welt. Annehmbare Lebensverhältnisse für alle ethnischen und religiösen Gruppen reduzieren außerdem den Migrationsdruck nach Deutschland und die Internalisierung des Palästinakonflikts in Deutschland.
Norbert Froitzheim: Viele Menschen halten US Präsident Trump für einen konfus und erratisch handelnden Politiker, der morgen nicht mehr weiß, was er gestern entschieden hat, sozusagen ohne jegliche Strategie. Stimmen Sie dem zu oder entdecken Sie in seinem Handeln Grundelemente eines machiavellistischen Strategieansatzes?
Professor Gerhard Blickle: Ja, Donald Trump zeigt nach Meinung naher Beobachter die Zeichen eines mental schnell alternden Menschen, der diese Schwäche, wie sein Vorgänger, gerne kaschieren möchte, um persönlich an der Macht zu bleiben. Hoffentlich ist das amerikanische Gemeinwesen in der Lage, dafür zu sorgen, dass es bald wieder von einem mental voll funktionsfähigen Präsidenten regiert wird. Gleichzeitig haben die USA als Staat eine enorme Staatsverschuldung und viele seiner wirtschaftspolitischen Maßnahmen zielen darauf ab, wenn ich meinem Kollegen Hans Werner Sinn folge, dieses Problem für die USA zu entschärfen. Die wirtschaftspolitischen Mittel dafür widersprechen jedoch den gängigen ökonomischen Lehrbüchern, weswegen sie als konfus erscheinen. Außerdem wurde sein Wahlkampf von einer inhomogenen Koalition von Interessengruppen finanziell unterstützt, deren Wünsche abwechselnd bedient werden, weswegen die Entscheidungen als erratisch erscheinen. Und alles trifft auf eine Persönlichkeitsgrundstruktur beim Präsidenten, die durch einen starken Wunsch nach persönlicher Bereicherung, eine Neigung, Interessenkonflikte in jedem Fall zu eigenen Gunsten zu entscheiden und dabei Unwahrheiten in Kauf zu nehmen, gekennzeichnet ist. Auch das führt dazu, dass Dinge mal so und mal so präsentiert und entschieden werden.
Norbert Froitzheim: Inwiefern lassen sich zentrale Gedanken Machiavellis, etwa aus „Il Principe“, in der Rhetorik und Machtpraxis Donald Trumps wiederfinden? Glauben Sie, dass er ein Instinktmensch ist oder bewusst nach machiavellistischen Prinzipien handelt?
Professor Gerhard Blickle: Meines Erachtens ist Trump weit weg von Machiavellis Ratschlägen. Er versucht beispielsweise nicht, als „fromm, treu, menschlich, gottesfürchtig und ehrlich“ zu scheinen und im Verborgenen zu wirken. Er verkündet öffentlich, dass es ihm möglich sei, jeder Frau straflos in aller Öffentlichkeit unter den Rock fassen zu dürfen. Trump inszeniert also öffentlich seine vermeintliche Exzeptionalität, über allen Gesetzen zu stehen. Er ist aus meiner Sicht kein Instinktmensch, sondern hat eine schwere narzisstische Störung. Und er verfolgt gewiss langfristig planvoll das Ziel, sich und seine Familie materiell zu bereichern und Gefängnishaft zu vermeiden.
Norbert Froitzheim: Kann man sagen, dass die heutige mediale und digitale Welt Machiavellis Lehren über Macht und Manipulation noch wirksamer macht? Wie würden Sie Machiavellis Verständnis von Macht, Täuschung und Image auf Trumps Kommunikationsstil und Medienstrategie übertragen?
Professor Gerhard Blickle: Wie ich bereits sagte, hielt Machiavelli das Volk für dumm. Er schrieb: „Denn der Pöbel hält es stets mit dem Schein und dem Ausgang einer Sache, und die Welt ist voller Pöbel.“ Hier ist Machiavelli etwas inkonsistent. Denn er argumentiert ja in seinen Discorsi vehement für die republikanische Staatsform des Volkes gegen eine Monarchie oder Aristokratie. Entweder ist das Volk dumm, dann wissen die Eliten besser Bescheid. Oder die nachhaltigste und erfolgreichste Staatsform ist die der Republik, was die Auffassung Machiavellis war, dann kann das Volk nicht so dumm sein. Aber er rechnete in der Tat damit, dass Demagogen das Volk verführen können. Für Machiavelli war beispielsweise der Bußprediger Savonarola so ein Demagoge.
Norbert Froitzheim: Sehen Sie in der Rückkehr zu machiavellistischen Methoden eine Gefahr für die liberalen Demokratien oder nur eine Anpassung an die politischen Realitäten des 21. Jahrhunderts, das sich als ein Jahrhundert der Neuordnung auf allen politischen Ebenen abzeichnet?
Professor Gerhard Blickle: Richard Nixon und Henry Kissinger waren Machiavellisten mit voller mentaler Leistungsfähigkeit. Donald Trump ist, wie ich bereits sagte, kein Machiavellist. Entscheidend ist, ob die Justiz unabhängig bleibt, Gewaltenteilung praktiziert wird und Machtwechsel ohne Gewalt, sondern durch demokratische Wahlen stattfindet.
Norbert Froitzheim: Würde Machiavelli das heutige Deutschland als zu vorsichtig und moralisch gehemmt betrachten?
Professor Gerhard Blickle: Der Spruch von John F. Kennedy „Frage nicht, was dein Land für dich tut, sondern frage, was du für dein Land tun kannst“ könnte von Machiavelli stammen. Er war für eine Republik und lehnte Monarchien und Aristokratien als nicht langfristig überlebensfähig ab. Sein großes Vorbild war die alte römische Republik. Er würde das heutige Deutschland als ein Gemeinwesen betrachten, in dem zu wenige Leute fragen, was sie persönlich für ihr Land Positives bewirken können. Wir haben aufgrund der Befürchtungen unserer Nachbarn vor einem militärisch schlagkräftigen Deutschland in der Mitte Europas unsere Sicherheit an die Amerikaner outgesourct und können jetzt nicht in sehr kurzer Zeit die Dinge so umstellen, dass wir unsere eigene Sicherheit garantieren können. Wie ich bereits eingangs sagte: Das Outsourcen von Sicherheitsleistungen bringt keine wirkliche Sicherheit, sondern nur ein trügerisches Gefühl von Sicherheit, so Machiavelli. Jetzt, wo wir uns strategisch neu aufstellen, muss unsere Devise sein: Niemand soll sich bedroht fühlen, aber jeder potenzielle Aggressor soll sich abgeschreckt fühlen.
Gerhard Blickle, Professor für Arbeits-, Organisations- und Wirtschaftspsychologie an der Friedrich-Wilhelm-Universität Bonn ist ein ausgewiesener Experte für dunkle Persönlichkeitseigenschaften bei Führungskräften.


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