Das Glas ist nur halb voll

Ein Kommentar von unserem Chefredakteur Rolf Clement zur Wehrpflicht

Man mag es kritisieren, aber eine Regierung wie die in Berlin, die aus zwei so unterschiedlichen Parteien zusammengesetzt ist, muss Reformen manchmal in Etappen durchführen. Das ist für den Betrachter unbefriedigend. Wahrscheinlich wäre es auch für die Koalitionsparteien besser, sie würden sich einmal richtig zusammenraufen, aber die politische Realität ist anders. Das trifft auf viele Bereiche zu, so auch jetzt bei der Wehrpflicht.

Der Kompromiss, den die Koalitionsparteien gefunden haben, ist allenfalls ein ganz kleiner Zwischenschritt. Es ist schon lange klar, dass alle junge Menschen, die ab dem 1. Januar 2008 geboren sind, einen Fragebogen erhalten, den junge Männer ausfüllen müssen, bei dem es jungen Frauen freigestellt ist, ob sie das machen. Das ist eine notwendige Voraussetzung für die weiteren Schritte. Hier kommt es jetzt ganz entscheidend darauf an, wie dieser Fragebogen formuliert ist. Wenn dieser vor allem durch juristische Klauseln geprägt ist, dann ist er keine Werbung für die Bundeswehr. Hoffentlich haben da Menschen mitgewirkt, die sich auch in die jungen Menschen hineinversetzen können. 

Dann wird – auch das ist eine notwendige Voraussetzung -, jeder junge Mann gemustert, gleichgültig, ob er sofort zur Bundeswehr will oder nicht. Es wird sehr oft das schwedische Modell als Beispiel herangezogen. Dieses Modell ist sehr attraktiv, man sollte ihm aber nur auch ganz folgen.

Schweden hat zeitgleich mit der Bundesrepublik Deutschland 2011 die allgemeine Wehrpflicht ausgesetzt. Allerdings hat das schwedische Parlament gleich beschlossen, dass bei einer Wiedereinführung der Wehrpflicht diese auch für Frauen gilt. Nach der Annektion der Krim 2014 hat Schweden die Wehrpflicht wieder eingeführt, auch für die Frauen. Seitdem funktioniert sie.

Die Musterung in Schweden erfolgt in einer freundlichen, offenen Atmosphäre. Jeder zu Musternde kommt in ein helles Gebäude mit offener Architektur. Er oder sie bekommt einen Begleiter für den Tag, der mit sportlichen Übungen und theoretischen Fragen gespickt ist. Immer wieder gibt es Räume, in denen sich die Musterungsgäste erholen können oder wo sie auf den nächsten Schritt warten, wo es Getränke und Obstschalen gibt. Der Betreuer steht für Informationen zur Verfügung. Das hat nichts zu tun mit den muffigen Musterungseinrichtungen, die die Bundeswehr bis 2011 hatte. 

Es kommt noch etwas anderes hinzu: Diese Einrichtungen werden  – jedenfalls zum Teil – auch von der Polizei und Grenzschutzeinrichtungen genutzt. Erst im Laufe des Tages trennen sich die Wege, wobei da auch schon Fragen der Eignung eine Rolle spielen. Verteidigungsminister Pistorius hat nach der Vorstellung des Berliner Kompromisses angedeutet, dass am Ende des Musterungsprozesses jene, die sagen, sie wollten nicht zur Bundeswehr, auf Katastrophen- und Blaulichtorganisationen hingewiesen werden können. Ob die Musterungsdaten dahin weitergegeben werden, ist offen, angesichts der engen Auslegung von Datenschutzregelungen in Deutschland und der fehlenden Bereitschaft, die Freigabe der Daten für andere Zwecke beim Musterungskandidaten zu erfragen, eher fraglich.

In Schweden wird deutlich, dass die Armee (oder die Sicherheitsorganisationen) den jungen Menschen haben wollen. Sie werden behandelt wie Kunden, jedenfalls nicht von oben herab. Auf der anderen Seite herrscht hier auch ein anderer Mindset vor. In Schweden wird die Frage des Ob nicht wirklich diskutiert: Jeder junge Mensch ist dafür, sein Land zu verteidigen, wenn es angegriffen wird. Die deutsche Diskussion, in der dies manchmal in Frage gestellt wird, versteht dort niemand.

Deswegen stellt sich in Schweden die Frage nicht, ob sich eine ausreichende Zahl von Bewerberinnen oder Bewerbern freiwillig melden. Bis jetzt ist die erwünschte Zahl immer erreicht worden. Dennoch haben auch die schwedischen Streitkräfte eine Regelung getroffen für den Fall, dass das nicht gelingt. Dann werden aufgrund der fehlenden Fähigkeiten jene Gemusterten einberufen, die auf diese Fehlfähigkeiten am besten passen. Es wird also gezielt für bestimmte Aufgaben einberufen. Eine Einberufung mit einem Losverfahren würde dort eher Entsetzen denn Zustimmung hervorrufen. Der Bundeswehr ist nicht geholfen, wenn da jemand ausgelost ankommt. Sie braucht Menschen, die auf die entsprechenden Stellen passen, vor allem dann, wenn das Delta zwischen den Anforderungen und den Freiwilligen groß ist.

Das schwedische Verfahren erscheint sehr sachgerecht, Minister Pistorius wird nicht müde, es zu loben. Allerdings endet dieser Stelle endet die Einigung in der deutschen Koalition. Vor allem die SPD-Bundestagsfraktion versteckt sich hinter der Hoffnung, dass es aufgrund des erhöhten Salärs für Grundwehrdienstleistende und einiger weiterer Bonbons ausreichend Freiwillige geben wird. 

Die Experten im Verteidigungsministerium, die sich mit dieser Frage beschäftigen, sagen schon seit längerem, dass sie da mehr als skeptisch sind. Die Freiwilligkeit ist ausgereizt, heißt es immer wieder. Angesichts der Tatsache, dass die Zahl der für die Auftragserfüllung erforderlichen Wehrdienstleistenden – auch aufgrund der Zusagen, die Deutschland an die NATO gemeldet hat – immer weiter steigt, scheint die Einschätzung, das werde schon irgendwie klappen, blauäugig. 

Hier springt die Reform zu kurz. Wenn man für die Wiedereinführung von Pflichtelementen ein Gesetz braucht, weil auch die Aussetzung per Gesetz erlassen wurde, dann reicht es nicht aus, ein neues, wiederum strittiges Gesetzgebungsverfahren einzuleiten, wenn der Mangel offenkundig und unstrittig festzustellen ist. 

Es ist auch nicht überzeugend, jetzt mit fehlenden Unterkünften zu argumentieren. Die Bundeswehr hat bei der Verlegung von Truppen z.B. nach Litauen Unterkünfte in Containern vorgesehen, die dort einen sehr guten und von den Soldaten akzeptierten Eindruck machten. Oder können wir uns vorstellen, dass die Bundesregierung die Soldaten dort in unzulängliche Unterkünfte geschickt hat? Dass man dauerhaft Gebäude erstellen muss, steht außer Zweifel. Aber zunächst einmal ginge das auch so.

Der Gesetzentwurf sieht vor, dass es eine halbjährige Berichtspflicht über die Akzeptanz der neuen Regelung geben soll. Bleibt nur zu hoffen, dass diese Berichte schonungslos und realistisch sind. Hier geht es um zu viel: Mit geschönten Zahlen die politischen Gremien in einer Frage beruhigen, in der die Bevölkerung schon deutlich weiter ist, wäre fatal.

Dieser Gesetzentwurf atmet nicht die Einsicht in das Nötige. Wer davon spricht, dass in dieser Zeit die Bevölkerung mitgenommen werden muss in eine Zukunft, in der eine militärische Auseinandersetzung nicht mehr ausgeschlossen ist, muss dies mit seiner Politik auch umsetzen. Das, was da beschlossen wurde, ist notwendig, aber nicht hinreichend. Wenn der Grundsatz gilt, dass bei der Sicherheit von einem „Worst-Case-Scenario“ ausgegangen werden muss, hat die Koalition ihre eigenen Grundsätze nicht umgesetzt. 

Rolf Clement ist einer der profiliertesten sicherheitspolitischen Journalisten Deutschlands. Clement war viele Jahre Sonderkorrespondent für Sicherheitspolitik und Mitglied der Chefredaktion des Deutschlandfunks. Seit 2017 arbeitet er als freier Journalist, unter anderem für den TV-Sender Phoenix sowie die Fachzeitschrift Europäische Sicherheit & Technik. Darüber hinaus lehrte er an der Hochschule des Bundes in Brühl bei Köln. Vor kurzem  ist er zum 2. Vorsitzender des Sicherheitsforum Deutschland gewählt worden.

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