Russlands Provokationen im NATO-Luftraum – Standfestigkeit jetzt!

Ein Kommentar von unserem Chefredakteur Rolf Clement

Die Provokationen Russlands nehmen zu. Immer öfter verletzen russische Flugobjekte die Souveränität von NATO-Staaten. Dies geschieht schon länger immer wieder. Aufklärungsdrohnen erreichen wiederholt das NATO-Gebiet. Auch in Deutschland berichten Unternehmen von Aufklärungsflügen über ihren Liegenschaften. Genannt werden dabei u. a. die Chemieunternehmen Bayer und BASF. Drohnen wurden über Bundeswehr-Einrichtungen gesehen, vor allem in solchen, in denen ukrainische Soldaten ausgebildet wurden. Dies alles hat man eine Zeitlang mit lauen Protesten hingenommen.

Das hat Moskau nun ermutigt, die nächsten Schritte zu unternehmen. Der Drohnenschwarm, der aus Russland nach Polen kam, stellte zunächst eine neue Dimension dar. Die Aussage, das könnte eine Panne sein, ist bei einer Anzahl von nahezu 20 Drohnen lächerlich. Die Kampfflugzeuge, die minutenlang über Estland geflogen sind – was bei der Größe des Landes bedeutet, dass das Land insgesamt überflogen wurde – sind die nächste Stufe der Eskalation. Dass diese Flugzeuge auf dem Weg nach Kaliningrad gewesen sein sollen, klingt nach einer Schutzbehauptung. Und: Was sollen Kampfflugzeuge in Kaliningrad? Wie sind sie früher dorthin gelangt? Ein weiteres Kampfflugzeug, das in die Sicherheitszone einer polnischen Bohrinsel eingedrungen ist, gehört in diesen Zusammenhang. Einen Tag später flog ein Aufklärungsflugzeug über die Ostsee – ohne Kennung und Hinweise auf die Route. Inwieweit die Drohnen über den Flughäfen von Kopenhagen und Oslo in diese Reihe gehören, ist noch nicht endgültig geklärt. Der Cyberangriff auf einige Flughäfen, der über Tage den Flugverkehr massiv beeinträchtigt hat, kann auch ein Teil hybrider Kriegsführung sein.

Man kann darauf warten, wann der nächste Schritt erfolgt. Was machen wir denn, wenn ein russisches Kampfflugzeug über NATO-Gebiet „aus Versehen“ oder durch eine „Panne“ eine scharfe Bombe „verliert“, die dann am Boden erheblichen Schaden anrichtet? Diskutieren wir dann auch weiter?

Es ist sehr eindeutig, worum es Moskau geht. Russland testet aus, ob und in welcher Deutlichkeit die NATO reagiert. Der Kreml rechnet damit, dass die NATO keine klare Reaktion beschließt. Wie verhalten sich die USA, wie Länder wie Ungarn? Wenn das nicht eindeutig ist, wird den Staaten an der Peripherie, z. B. im Baltikum, klargemacht, dass die NATO eben nicht stabil zur Verfügung steht, wenn es zu einer Auseinandersetzung kommt. Die inneren Verhältnisse in der NATO – z. B. die Haltung Ungarns – lassen den Schluss zu, dass es keine Einstimmigkeit bei konkreten Maßnahmen geben wird. Dem ist die NATO durch die Beschlüsse dieser Woche, auch durch die Erklärung der USA vor dem UN-Sicherheitsrat, zunächst entgegengetreten.

Es ist daher schon ein beachtliches Zeichen, dass die NATO gemeinsam beschlossen hat, dass das NATO-Gebiet geschützt und gegebenenfalls verteidigt wird. Dieser Beschluss fiel einstimmig, weil die NATO nur einstimmig beschließen kann. Aber das Wie ist den militärischen Kommandeuren überlassen. Litauen hat seine Armee schon ermächtigt, bei Eintritt eines russischen Flugzeugs in den eigenen Luftraum dieses abzuschießen. Dies ist für Deutschland eine gewichtige Nachricht, denn in Litauen stehen Bundeswehrsoldaten zur Verteidigung des Landes. Wenn es hier zu einer Eskalation kommt, ist Deutschland betroffen.

Aber auch sonst sollte eine so wichtige Entscheidung nicht ohne politische Rückendeckung von Soldaten gefällt werden. Sie muss klar für Moskau sein. Wenn Deutschland durch seinen Verteidigungsminister zur Besonnenheit aufruft, stellt sich schon die Frage nach einheitlichem Vorgehen.

Wenn ein russisches Flugzeug abgeschossen wird, birgt das natürlich auch das Risiko einer weiteren Eskalation. Wenn Russland aber Stück für Stück die Operationen auf dem NATO-Gebiet ausweitet, dann liegt der Schluss nahe, dass diese Eskalation weiter betrieben wird. Irgendwann kommt dann die Situation, dass man sehr heftig reagieren muss.

Russland ist zurzeit in der Ukraine so gebunden, dass es einen weiteren Konflikt nicht riskieren, jedenfalls nicht bestehen kann. Erst nach dem Ende des Kriegs gegen die Ukraine kann Russland seine Streitkräfte wieder so aufbauen, dass es zu einer Offensive in der Lage ist. Auguren meinen, dass dies ab 2029 so sein könnte. Wenngleich solche Daten kaum seriös begründet werden können, müssen wir uns doch die Frage stellen: Wollen wir warten, bis Russland wieder operationsfähig ist? Ist es nicht militärisch und politisch geboten, jetzt so zu reagieren, dass die Standfestigkeit des Westens auch in Moskau erkannt wird? Es wäre also jetzt geboten, Russland zum Einlenken zu bringen.

Das ist schon einmal gelungen. Im Syrienkrieg, an dem sich Russland auf Seite der syrischen Assad-Diktatur beteiligt hat, haben russische Kampfflugzeuge mehrfach eine türkische Landspitze, die im Süden des Landes nach Syrien hineinragt, überflogen. Die Türkei hat Russland mehrfach aufgefordert, diese Verletzung des türkischen Luftraums zu beenden. Als es erneut geschah, haben die Türken ein russisches Kampfflugzeug abgeschossen. Russland hat verbal protestiert, die Überflüge wurden aber eingestellt. Dieses Beispiel zeigt, dass Russland eine solche Sprache versteht.

Die NATO muss also jetzt gegebenenfalls auch mit Gewalt reagieren, um die eigene Abschreckungsfähigkeit zu beweisen. Es sollten auch weitere Sanktionen erlassen werden. Dringend nötig ist z. B., dass die EU- und NATO-Länder endlich aufhören, russisches Gas auf Umwegen zu kaufen. Es ist doch lächerlich, wenn der endgültige Stopp auf den 1.1.2027 „vorverlegt“ wird. Erinnern wir uns, wie der damalige Wirtschaftsminister Habeck durch die nahöstliche Welt reiste, als nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine ein Öl- und Gasembargo verkündet wurde. Er reiste in Länder, mit denen er aus menschenrechtlichen Gründen eigentlich keine Geschäfte machen wollte. Aber die Versorgungssicherheit in Deutschland, unsere Resilienz ohne die Nutzung russischer Energie, war in dieser Lage wichtiger. Der Krieg läuft nun dreieinhalb Jahre – und nun braucht man noch eineinhalb Jahre, um die damals begonnene Politik konsequent umzusetzen? Da stellt sich auch die Frage nach westlicher Glaubwürdigkeit.

Es ist jetzt ein Punkt erreicht, an dem gehandelt werden muss, wenn man vor Aktionen auf unsere Länder, die über hybride Angriffe hinausgehen, abschrecken will. Da eskaliert nicht der Westen, sondern Russland. Hier ist Standfestigkeit aller NATO-Staaten nötig, auch wenn man dabei etwas riskiert. Denn man riskiert nichts, was nicht ohnehin im Plan möglicher russischer Aktionen enthalten ist. Diese Einigkeit darf nun nicht mit dem Verweis auf „Besonnenheit“ gefährdet werden (das hatten wir doch schon einmal, oder?). Wenn Länder mit Regierungen wie Ungarn dabei sind, dürfen wir jetzt nicht außen vor stehen.

Rolf Clement ist einer der profiliertesten sicherheitspolitischen Journalisten Deutschlands. Clement war viele Jahre Sonderkorrespondent für Sicherheitspolitik und Mitglied der Chefredaktion des Deutschlandfunks. Seit 2017 arbeitet er als freier Journalist, unter anderem für den TV-Sender Phoenix sowie die Fachzeitschrift Europäische Sicherheit & Technik. Darüber hinaus lehrte er an der Hochschule des Bundes in Brühl bei Köln. Vor kurzem  ist er zum 2. Vorsitzender des Sicherheitsforum Deutschland gewählt worden.

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