Russland – Ukraine – „Westen“

Der „Westen“ muss sich ehrlich machen

Zusammenfassung

Fast drei Jahre nach Beginn der russischen Aggression gegen die Ukraine ist zu konstatieren, dass der politische Zweck westlicher Staaten, die internationale Ordnung wiederherzustellen und eine freie Ukraine in die EU und die NATO zu führen, durchaus gefährdet ist. Zwar gibt es vielfältige Unterstützung, die die Ukraine (noch) bestehen lässt. Aber der politische Zweck konkurriert mit nationalen Interessen, Einschätzungen und Sorgen. Der deutschen und anderen Regierungen gelingt es nicht, den Kampf gegen Russlands Aggression überzeugend als Einsatz für die nationale Sicherheit zu vermitteln. Gerade auch nach dem BRICS-Treffen bleibt Putin ermutigt, gegen die Ukraine und den „kollektiven Westen“ weiter zu eskalieren. Er wird nicht durch Risikofurcht begrenzt. Solange viele Regierungen ihr Handeln am überbetonten Risiko einer Ausweitung des Konflikts ausrichten, werden keine überzeugenden Maßnahmen in die Tat umgesetzt, um eine freie Ukraine für ein freies Europa zu erreichen. Dann droht ein „Minsk III“, das Russland Erfolge der Besetzung und Destabilisierung der Ukraine und darüber hinaus vorantreiben lässt.

Analyse

Seit bald drei Jahren tobt der brutale russische Angriffskrieg gegen die Ukraine. Seit den ersten Tagen tönt der Westen, dass damit Grundprinzipien der internationalen Ordnung zerschlagen werden. Die Wiederherstellung der internationalen Ordnung der VN-Charter und der Charta von Paris wird der deklaratorische Hauptzweck.

Damit verbunden wird der politische Zweck, eine freie, souveräne und territorial integre Ukraine in die Europäische Union und in die Nordatlantische Allianz zu führen. Zuletzt haben Biden, Macron, Starmer und Scholz dies bei Ihrem Treffen am 18. Oktober schriftlich als für sie verbindlich wiederholt.

Da das nukleare Russland im UNSCR jede Entscheidung mit ihrem Veto verhindern würde, haben viele Staaten der Generalversammlung schon Tage nach Beginn der Aggression eine Resolution eingebracht, die nicht nur die Aggression als eklatanten Verstoß gegen die UN-Charter verurteilte, sondern auch den sofortigen Rückzug der russischen Truppen forderte. Am 11. März wurde diese Resolution von 141 Nationen angenommen.

Und zum ersten Jahrestag der Aggression arbeiteten viele an einer neuen Resolution, die erneut den unverzüg­lichen Rückzug der Russen aus der Ukraine forderte. Wieder stimmten 140 Staaten dieser Forderung zu. Kurz vor Ende des dritten Kriegsjahres muss die Frage gestellt werden, warum die Staaten der EU, der NATO und Partnerstaaten so wenig getan und erreicht haben, mehr dieser Staaten zu gewinnen und zu vereinen, diese Forderung mit gemeinsamem politischem und wirtschaftlichem Druck gegenüber dem Aggressor durchzuset­zen.

NATO-, EU- und Partnerstaaten haben von Anfang ihre unerschütterliche Solidarität mit der Ukraine bekundet. Politische, finanzielle, wirtschaftliche und schrittweise, zeitlich oft späte und quantitativ wie qualitativ kaum effiziente militärische Unterstützung,bedeuteten aus Sicht der Unterstützer eine große Anstrengung, die ihre Leistungskraft durchaus beanspruchte.

Tatsächlich konkurrierte der politische Zweck, eine freie Ukraine zu erreichen und Russlands Expansion zurück­zuweisen, mit eigenen Interessen, mit Einschätzungen und Sorgen. Viele erkannten zwar, dass Russland in der Ukraine gestoppt werden muss, wenn man später nicht gegen weitere Expansion in Ost-Mitteleuropa kämpfen wollte. Aber die größere Zahl von Regierungen und Teile der Bevölkerung betrachten ihr Handeln immer noch als Auftreten „in der Sache eines anderen Staates“.

Und deshalb wird sie nicht so ernst genommen wie die eigene. Solange die Zurückweisung der russischen Expansion in der Ukraine als Hilfe für einen Dritten eingeordnet wird, solange werden die eigenen Anstrengun­gen nicht dem politischen Zweck einer freien Ukraine als Voraussetzung für ein freies Europa entsprechen können.

Die negativen Folgen für die Ukraine werden gerade in diesen Wochen vor dem Winter im Land und an der Front im Osten überdeutlich. Und wenn der Einsatz nordkoreanischer Truppen in Kursk und der Ukraine verur­teilt wird, aber ohne direkte und schnelle Maßnahmen für bessere Unterstützung der Ukraine und massive Sanktionen sowohl gegen Russland als auch Nordkorea bleibt, dann muss die Frage erlaubt sein, ob der „Westen“ seinen politischen Zweck überhaupt noch erreichen will.

Diese unzureichende Verfolgung des deklarierten politischen Zwecks entsteht auch dadurch, dass das Bestre­ben, vorgestellte Risiken zu vermeiden, die Entschlossenheit, die eigenen Zwecke für ein freies Europa tatkräf­tig voranzubringen, erkennbar beeinträchtigen. Drastisch ausgedrückt, wenn aus Sorge vor weiterer Eskalation Putins, die notwendigen Maßnahmen auf allen Gebieten und insbesondere im militärischen Bereich nicht oder nur halbherzig durchgeführt werden, dann wird die Ukraine weiter großem Leiden, ja Siechtum ausgesetzt bleiben.

Der deutschen und anderen Regierungen im westlichen Europa gelingt es nicht, den Kampf gegen Russlands Aggression überzeugend als Kampf für die eigenen Interessen zu vermitteln. Wenn Frau Wagenknecht mit ihrer gefühlten Mehrheit der Bevölkerung argumentiert, die gegen weitere Waffenlieferungen sei und eine Verein­barung mit Putins Russland auch zulasten der Ukraine für zweckmäßig, ja geboten hielten, dann fehlt offen­sichtlich eine überzeugende Darstellung von Putins Zielen und seinem expansiven Vorgehen auch mit massiven militärischen Mitteln.

Jetzt geht es darum, klare Signale zu setzen, dass NATO-, EU- und Partnerstaaten eine Unterjochung der Ukraine nicht zulassen. Dazu können viele Maßnahmen dienen. Eine dringende politische besteht in einer Einladung der Ukraine in die NATO, um Putin die Möglichkeit abzuschneiden, die NATO in dieser Frage zu spalten. Eine militärische ist die Aufhebung aller Beschränkungen für den Einsatz gelieferter Waffen, um die massiven Raketen-, Drohnen- und Gleitbombenangriffe zu verringern. Darüber hinaus sind endlich wirksamere Maßnahmen zur Durchsetzung und Verschärfung der Sanktionen geboten.

Und nach dem Bild, welches das BRICS Treffen in KASAN vermittelte, wo auch Staaten vertreten waren, die beiden Resolutionen gegen den Angriffskrieg zugestimmt hatten, ist klar, dass diese noch nicht für die prakti­sche politischen Durchsetzung der VN-Resolutionen gewonnen werden konnten.

VN-Generalsekretär Antonio Guterres fand zur russischen Aggression keine klaren Worte gegenüber dem Aggressor, sondern beließ es bei folgender Formulierung: “We need peace in Ukraine. A just peace in line with the UN-Charter, international law and General Assembly resolutions”. Die wesentliche Forderung der beiden Resolutionen – Rückzug Russlands aus der Ukraine – kam ihm nicht über die Lippen.

So bleibt Putin ermutigt, weiter gegen die Ukraine und den „kollektiven Westen“ zu eskalieren und zu spalten. Dem Grundsatz aus seiner Autobiographie: „immer den Sieg im Kopf haben und sich nicht durch Fehlervermei­dung ablenken lassen“ folgt er auch jetzt. Er wird nicht durch Risikofurcht gebremst.

Der Westen erklärt eine freie, souveräne, territorial integre Ukraine zum politischen Zweck für ein freies Europa. Aber die Akteure sehen nicht, dass die ständige Ausrichtung am überbetonten Risiko einer Ausweitung des Konflikts, auch bei Bundeskanzler Scholz, erkennbar verhindert, die erforderlichen militärischen, politi­schen, wirtschaftlichen und finanziellen Mittel und Maßnahmen einzusetzen, die für den Erfolg notwendig sind. Das kann dazu führen, Russland mit einem Minsk III weitere Erfolge bei Besetzung und Destabilisierung der Ukraine und darüber hinaus zu ermöglichen. Das sollte niemand wollen.

Anmerkungen: Der Beitrag gibt die persönliche Auffassung des Autors wieder.