Von Numan Özer
Ein 16-jähriger Schüler einer zehnten Klasse verweigert die Teilnahme an der schulischen Juniorwahl zur Bundestagswahl. Seine Begründung: Die Beteiligung an demokratischen Prozessen sei Shirk – ein Begriff aus dem Islam, der die Beigesellung anderer Götter neben Allah bezeichnet und als schwere Sünde gilt. Seit den Sommerferien fällt der Schüler durch religiös aufgeladene Diskussionen auf, die regelmäßig den Unterricht sprengen und den Klassenfrieden stören. Besonders alarmierend wird es, als er beginnt, Mitschüler in seiner und den Parallelklassen zu überzeugen, ebenfalls die Wahl zu boykottieren. Die Lehrkräfte sind zunehmend überfordert und ratlos angesichts der entstehenden Spaltung.
Hierbei handelt es sich um keinen Einzelfall. Eine aktuelle Studie der Universität Münster zeigt, dass etwa 20 % der befragten Muslime mit Migrationshintergrund in Deutschland Ressentiments verspüren, die in Kombination mit anderen Faktoren eine Radikalisierung begünstigen können. Diese verfestigten Kränkungsgefühle können islamistische Gruppen gezielt nutzen, um Betroffene gegen die deutsche Gesellschaft zu mobilisieren.
Radikalisierung ist selten ein Einzelfaktorphänomen. Junge Menschen, die sich extremistischer Ideologie zuwenden, sind häufig vielfältigen Belastungen ausgesetzt. Die sogenannten Push-Faktoren – also die belastenden Umstände, die junge Menschen in eine Radikalisierung drängen können – umfassen unter anderem Orientierungslosigkeit, Perspektivlosigkeit, Diskriminierungserfahrungen, Identitätskonflikte, familiäre Belastungen und sozioökonomische Benachteiligung. In besonders prekären Lebensrealitäten, wie sie im urbanen Raum zahlreicher deutscher Großstädte zu finden sind, scheitern viele Jugendliche am Übergang von der Schule in die Ausbildung oder Erwerbstätigkeit. Auch im Fall des beschriebenen Schülers zeigt sich dieses Bild deutlich: Kurz vor dem Abschluss der zehnten Klasse steht er ohne konkrete Perspektive da. Er weiß nicht, wie es nach der Schule weitergehen soll. Ein funktionierender Übergang von Schule zu Beruf bleibt in vielen Fällen aus – das System versagt hier systematisch.
Der Schüler lebt mit seiner Familie in beengten Wohnverhältnissen. Seine Familie ist armutsgefährdet, im häuslichen Umfeld erlebt er Gewalt. Er stammt aus einer Familie mit internationaler Geschichte, wurde selbst aber in Deutschland geboren. Sein Wohngebiet gilt als sozialer Brennpunkt. Ausbildungsbetriebe sortieren Bewerbungen mit seiner Adresse häufig schon bei der Sichtung aus. Hinzu kommt, dass Jugendliche mit arabischen oder türkischen Namen bei gleicher Qualifikation nachweislich seltener zu Vorstellungsgesprächen eingeladen werden.
Gleichzeitig wirken Pull-Faktoren: Angebote extremistischer Milieus, insbesondere über soziale Medien, versprechen Zugehörigkeit, Identität und Bedeutung. TikTok ist dabei ein zentraler Katalysator. Extremistische Prediger oder Akteure aus der Grauzone der Szene verbreiten hier Narrative, dass demokratische Prozesse und Wahlen unislamisch seien. Diese Inhalte sind professionell aufbereitet, ansprechend gestaltet und passgenau auf jugendliche Lebenswelten zugeschnitten – inszeniert wie Popkultur. Diese Rattenfänger agieren effektiv, ungestört und mit enormer Reichweite. Der Verfassungsschutzbericht 2024 warnt explizit vor dieser digitalen Radikalisierungsdynamik.
Repression und Sicherheitsmaßnahmen sind ein wichtiges Instrumentarium, aber sie allein reichen nicht aus. Ein reines sicherheitspolitisches Denken greift zu kurz und bleibt oberflächlich. Es gleicht dem Versuch, Unkraut zu bekämpfen, indem man es nur oberflächlich abschneidet: Der Rasen sieht kurzzeitig sauber aus, doch das Problem wächst aus der Tiefe weiter, breitet sich aus und wird zunehmend schwerer kontrollierbar. Nur wer das Unkraut mitsamt Wurzel entfernt, kann das Problem nachhaltig lösen.
Ein tragisches Beispiel liefert der Messeranschlag in Solingen im August 2024: Ein 26-jähriger Syrer griff auf einem Volksfest Menschen mit einem Messer an, tötete drei und verletzte acht. Obwohl der Täter bereits hätte abgeschoben werden sollen, blieb er unter prekären Bedingungen ohne Perspektive im Land. Die Reaktion der Politik: Diskussionen über Verbotszonen. Doch Verbote allein greifen zu kurz. Der Hamburger Hauptbahnhof war trotz Messerverbotszone im Mai 2025 Schauplatz einer ähnlichen Tat. 18 Menschen wurden bei einem Angriff verletzt – das bestehende Verbot konnte die Tat nicht verhindern.
Besonders heikel: In Nordrhein-Westfalen wurden im gleichen Zeitraum die Mittel für Integrations- und Teilhabeprogramme deutlich gekürzt. Für viele junge Menschen, die ohnehin unter schwierigen Bedingungen leben, verschärft sich dadurch die Lage weiter. Ohne Bleibeperspektive, ohne Zugang zu Bildung, ohne Teilhabe entsteht ein gefährliches Vakuum, das Radikalisierung begünstigt.
Radikalisierung junger Menschen ist kein Problem einzelner Individuen – sie ist ein Spiegel gesellschaftlicher Versäumnisse. Jeder junge Mensch sollte die Chance haben, in einer freiheitlichen Gesellschaft aufzuwachsen, sich zu entfalten und aktiv mitzuwirken. Dazu braucht es mehr als Sicherheit – es braucht Teilhabe, Gerechtigkeit und Vertrauen. Prävention, Empowerment und Chancengleichheit müssen zur Grundlage einer zukunftsorientierten Sicherheitsstrategie werden – sonst bleibt jede Maßnahme ein Pflaster auf einer tiefen Wunde.
180° Wende e.V. ist ein gemeinnütziger Verein mit Sitz in Köln, der seit 2012 junge Menschen dabei unterstützt, Verantwortung zu übernehmen, Perspektiven zu entwickeln und sich aktiv in die Gesellschaft einzubringen. Die Organisation richtet sich insbesondere an Jugendliche und junge Erwachsene und setzt auf Peer-to-Peer-Ansätze und innovative Bildungsprojekte zur Förderung gesellschaftlicher Teilhabe. Mit ihrer Arbeit leistet die Organisation wirksame Präventionsarbeit und stärkt die Zielgruppe durch nachhaltiges Empowerment. Für ihr Engagement wurde 180° Wende mehrfach ausgezeichnet – unter anderem mit dem Intercultural Innovation Award der United Nations Alliance of Civilizations (UNAOC).
Numan Özer ist Jurist und stellvertretender Vorsitzender des gemeinnützigen Vereins 180° Wende e.V. Seit vielen Jahren engagiert er sich für die Stärkung junger Menschen und die Förderung gesellschaftlicher Teilhabe. In seiner Rolle bei 180° Wende gestaltet er die strategische Entwicklung der Organisation mit und treibt Projekte in den Bereichen Prävention, Empowerment und Bildung voran.
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