Solidarität ohne „Biss“

Der politische Zweck als Fokus nicht die Risiken

Bevor sich die brutale russische Invasion der Ukraine zum dritten Mal jährt erscheint es sinnvoll, ja geboten kritisch zu analysieren, welche Fakten geschaffen wurden, wie Ursachen und Wirkungen zu beurteilen sind und hat das Maß der eingesetzten Mittel die politischen Zwecke, die bis heute öffentlich verkündet und in gemeinsamen Dokumenten vereinbarten wurden, wirksam vorangebracht.

Die militärische Lage zeigt folgendes. Russland hält ca. 20 % des ukrainischen Territoriums besetzt und erzielt im Donbass in den vergangenen Wochen zum Teil spürbare Geländegewinne. Der intensive Luftkrieg Russlands hat ca. 80 % der Energieinfrastruktur und vieles mehr zerstört – mit schwerwiegenden Folgen für den Winter. 

Die Ukraine hat zu wenige Luftabwehrfähigkeiten erhalten, um auch nur annähernd so etwas wie einen „Iron Dome“ über der Ukraine zu errichten. Der Personalersatz an der Front ist schwierig und unzureichend, Material- und Waffen-Nachschub aus dem Westen ist vorhanden, aber immer in Schüben und zu wenig, um eine auch nur regional begrenzte Überlegenheit zu gewinnen oder wenigstens annähernd eine Art „Iron Dome“ zu schaffen.

Bundeskanzler Scholz hat in seiner kurzen Rede anlässlich der Nominierung als Kanzlerkandidat für die kommende BT-Wahl darauf hingewiesen, dass der brutale Kriegseinsatz Russlands – zuletzt mit einer bisher nicht eingesetzten ballistischen Mittelstreckenrakete – nicht erfolgreich sein darf und die Ukraine als freies, souveränes Land in ihren anerkannten Grenzen wiederhergestellt werden soll. Und hat dann hinzugefügt, dass er dafür steht, dass Deutschland und NATO nicht „Kriegspartei“ werden. Am 1. Dezember, ihrem ersten „Dienst-Tag, sind der neue Ratsvorsitzende der EU, António Costa, und die neue Hohe Vertreterin der EU für Außen- und Sicherheitspolitik, Kaja Kallas nach Kiew gefahren und haben dort erneut „… eine klare Botschaft zu übermitteln: dass wir an der Seite der Ukraine stehen und sie auch weiterhin voll und ganz unterstützen werden«. Dazu gehöre humanitäre, finanzielle, militärische und diplomatische Hilfe.

Die Aussagen westlicher Regierungen, dass Ukraine nicht verlieren, Russland nicht gewinnen darf, dass russische Truppen sich aus der Ukraine zurückziehen müssen (z.B. Bundeskanzler Scholz), dass eine freie souveräne, integre Ukraine von 1991 und damit die geltende internationalen Ordnung wiederherzustellen sei, bezeichnen wesentliche politische Zwecke dieser Unterstützung. Nach drei Jahren Krieg fragt man sich, warum Länder (zusammen über 800 Millionen), die diese politischen Zwecke seit 2022 im Munde führen und ein Vielfaches des Russischen ökonomischen Potenzials, ja teilweise selbst der Streitkräfte Russlands umfassen, die Ukraine weiter einem brutalen Aggressor aussetzen, anstatt ihn zu stoppen und zurückzuweisen. In der öffentlichen Diskussion wird sogar erkannt, dass jeder Misserfolg, Russland in der Ukraine zu stoppen, deutlich größere Anstrengungen verlangen wird, wenn Putin sich seinen weiteren Zielen in Osteuropa zuwenden wird.

Woran liegt es dann, dass der „Westen“ und seine Partner die Ukraine weiter dem russischen Raketen- und Drohnenhagel aussetzen und die Vorstöße Russlands im Donbass lediglich zu Kenntnis nehmen? Seit 2008 bekennt die NATO, dass die Ukraine Mitglied der Allianz wird, und beim Gipfel in Washington im Juli wurde dies “als unumkehrbar“ festgestellt. Seit dem Sommer 2022 ist die Ukraine ein Beitrittskandidat der EU und seit dem Sommer 2023 wurden erste Beitrittsgespräche aufgenommen. Wie kann man erklären, warum man ein Land, das man in der eigenen Familie sieht so stark und doch so schwach unterstützt, dass es sich nur unter großem Leid gerade behaupten, aber nicht gegen den Aggressor durchsetzen kann?

Ein erster Punkt folgt aus dem Phänomen des Zentralortes. Jedes Land betrachtet die Umgebung, ja die Welt zunächst aus ihrer geographischen Lage. So wird einsichtig, dass die Lagebeurteilung der östlichen NATO und EU-Länder, der großen Länder in der Mitte und der Länder im Süden und Südwesten erkennbar variiert, ja unterschiedlich ist mit Blick auf die russische Aggression und mögliche Folgen für die eigene Zukunft.

Ein zweiter Punkt liegt darin, dass die meisten Länder in einer wesentlich stärkeren Unterstützung der Ukraine auch eine wirtschaftliche Belastung erkennen, die sie glauben, ihrer Bevölkerung nicht zumuten zu dürfen und volkswirtschaftlich. („Wir brauchen unser Geld selbst“) Individuell mag das ein Argument sein. Für die gesamtwirtschaftlichen Ressourcen des Westens gegenüber Putin kann das mit Blick auf die eigenen Potenziale kein ausschlaggebendes Argument sein.

Ein dritter Punkt liegt in der mangelnden Bereitschaft der politischen „Klasse“ ihren Bürgerinnen und Bürgern, ihrer Gesellschaft „reinen Wein einzuschenken“ und die drastisch veränderte sicherheitspolitische Lage überzeugend zu erläutern mit einem imperialen Aggressor in Europa, der die Ukraine vernichten und das westliche Europa spalten und dominieren will. Putins Ausgreifen muss bereits in der Ukraine gestoppt werden und das wird nicht ohne „eigene Schmerzen“ gelingen. Jetzt kann das Zurückweisen Russlands noch mit überschaubaren Einschränkungen für unsere „Wohlfühlgesellschaften“ erreicht werden. Fällt die Ukraine Russland anheim, werden unsere Kosten, sein Vorrücken abzuwehren, unvergleichlich höher werden.

Ein vierter und entscheidender Punkt liegt darin, unserer Bevölkerung zu erzählen, dass die quantitative und qualitative Begrenzung unserer Unterstützung der Weg sei, um einen „kinetischen Krieg“ mit Russland zu vermeiden. Diese subjektive Einschätzung wird als „Besonnenheit“ verklärt, statt deutlich anzusprechen, dass damit dem Aggressor, der den Krieg seit drei Jahren eskaliert, die Initiative überlassen wird. Putin und dem Kreml gelingt es in hohem Maße diese Sorge mit verbalen Drohungen und Vorzeigen von denkbaren Handlungen zu schüren. Und in Deutschland sieht er damit besondere Erfolgschancen.

All dies führt seit Ende 2022 dazu, dass die Ukraine nur noch eine „leidende Verteidigung“ durchführen kann und ihr die Mittel verwehrt werden, zu einer aktiven, ja offensiven Selbst-Verteidigung zurückzukehren.

Das bringt Selenskyi und sein Land in eine verzweifelte Lage. Wenn er im Interview mit..  (wohl zähneknirschend ) andeutet, ein Waffenstillstand ohne Rückgabe aller besetzten Gebiete sei denkbar. ist das Ausdruck einer Lage, die der „Westen und seine Partner mitverantworten. Er besteht in Anlehnung n an einen früheren Vorschlag des vormaligen Generalsekretärs der NATO, Rasmussen, dass für die nicht besetzte Ukraine die Sicherheitsgarantie einer NATO-Mitgliedschaft gelten muss. Insbesondere Deutschland und die USA müssen sich hierfür „bewegen“.

Generalleutnant a.D. Dr. Klaus Olshausen war von 2006 bis 2013 Präsident der Clausewitz-Gesellschaft. Zuvor war er Deutscher Militärischer Vertreter im Militärausschuss der NATO, bei der WEU und EU, HQ NATO, Brüssel.