Wie die historischen Linien von Mandatszeit, Staatsgründung, Besatzung, Oslo-Prozess, Blockade und innerpalästinensischer Spaltung in die Eskalation vom 7. Oktober 2023 mündeten – und warum der Angriff Symptom, nicht Anfang, einer langen Strukturkrise ist.
von Dr. Désirée Kaiser
Der 7. Oktober 2023
Am 7. Oktober 2023 verübte die Hamas, unterstützt von weiteren Gruppen wie dem Palästinensischen Islamischen Dschihad, einen koordinierten Großangriff auf Israel: Der Grenzzaun wurde an mehreren Stellen durchbrochen, Tausende Raketen wurden abgefeuert, es kam zu Massenmorden, Entführungen und anderen schweren Verbrechen; Hunderte Geiseln wurden nach Gaza verschleppt. Das Ausmaß des Terrorangriffs, seine Symbolik und die Zahl der Opfer markieren eine sicherheitspolitische und psychologische Zäsur in Israels Geschichte. Israel reagierte mit einer großangelegten Militäroperation in Gaza, deren humanitäre Folgen katastrophal sind – und deren politische, rechtliche und regionale Implikationen bis heute nachwirken. Diese Analyse spult zurück: Sie zeichnet die historischen und politischen Linien nach, die letztlich in den Geschehnissen des 7. Oktober mündeten.
Von der Mandatszeit zur Staatsgründung: Die Konfliktmatrix entsteht
Um die Geschehnisse und das Ausmaß des aktuellen Nahostkonflikts nachzuvollziehen, muss ein Blick zurück zur Gründungszeit Israels geworfen werden. Nach dem Ende des Osmanischen Reiches übernahm Großbritannien 1917 das Mandat über Palästina. Die Balfour-Deklaration versprach hierbei eine nationale Heimstätte für das jüdische Volk – ein Schritt, der von der arabisch-palästinensischen Bevölkerung als Grundstein künftiger Entrechtung wahrgenommen wurde. Der UN-Teilungsplan vom 29. November 1947 (Resolution 181) sah zwei Staaten sowie ein international verwaltetes Jerusalem vor. Mit der Staatsgründung Israels am 14. Mai 1948 begann der Krieg, in dem Israel sich militärisch durchsetzen konnte und in dessen Verlauf Hunderttausende Palästinenser flohen oder vertrieben wurden (Naqba). Der Gazastreifen fiel unter ägyptische, das Westjordanland unter jordanische Kontrolle.
1967 bis Oslo: Besatzung, Hoffnung und vertagte Kernfragen
Im Zuge des Sechstagekriegs 1967 eroberte Israel das Westjordanland, den Gazastreifen, Ostjerusalem sowie weitere strategisch wichtige Gebiete. Diese Ereignisse markieren den Beginn der bis heute andauernden und sicherheitspolitisch hochrelevanten Besatzungssituation. Im selben Jahr festigte sich die Palästinensische Befreiungsorganisation (PLO) als zentrale politische Vertretung der palästinensischen Sache. Die PLO vereinte verschiedene Fraktionen, unter denen die Fatah lange Zeit als dominierende Kraft galt, und verfolgte in ihrer Gründungsphase den bewaffneten Kampf gegen Israel.
Die Erste Intifada (1987–1993) stellte einen Wendepunkt dar, da sie als Massenaufstand unter Besatzungsbedingungen die internationale Wahrnehmung des Konflikts nachhaltig veränderte. Mit dem Oslo-Prozess (1993/1995) erfolgte die gegenseitige Anerkennung von Israel und der PLO. Zudem wurde die Palästinensische Autonomiebehörde (PA) geschaffen, begleitet von einem Fünfjahresplan zur Lösung der sogenannten „Permanent-Status-Fragen“: Jerusalem, Grenzen, Siedlungen, Flüchtlinge und Sicherheit. Trotz dieser ambitionierten Roadmap blieben die Kernfragen jedoch ungelöst, was die sicherheitspolitische Lage bis heute prägt.
2005 bis 2007: Israels Gaza-Rückzug, Wahlsieg der Hamas, Blockade und Spaltung
2005 zog sich Israel unilateral aus dem Gazastreifen zurück, räumte alle Siedlungen und Militärposten und evakuierte zusätzlich vier Siedlungen im nördlichen Westjordanland. 2006 gewann die Hamas die Parlamentswahlen, 2007 übernahm sie nach blutigen innerpalästinensischen Kämpfen die Kontrolle über Gaza. Israel und Ägypten verhängten daraufhin eine Blockade über den Streifen. Für Israel war sie sicherheitspolitisch motiviert, Kritiker sehen in ihr eine Form kollektiver Bestrafung mit verheerenden sozialen, wirtschaftlichen und gesundheitlichen Folgen.
2008–2021: Eskalationszyklen, asymmetrische Verwundbarkeit, Erosion der Legitimität
Zwischen 2008/09, 2012, 2014 und 2021 kam es zu wiederholten Kriegen und Eskalationen zwischen Israel und der Hamas, aber auch weiteren bewaffneten Gruppen. Diese Auseinandersetzungen folgten einem immer wiederkehrenden Muster: Raketenangriffe aus Gaza und massive israelische Luft- und Bodenoperationen führten zu hohen zivilen Verlusten – vor allem in Gaza – sowie zur weitreichenden Zerstörung der Infrastruktur. Die humanitäre Lage verschärfte sich von Jahr zu Jahr, ohne dass nennenswerte Fortschritte in Richtung einer dauerhaften politischen Lösung oder eines belastbaren Finalstatus erkennbar wurden. Im Westjordanland verlor die Palästinensische Autonomiebehörde (PA) zunehmend an Glaubwürdigkeit, nicht zuletzt wegen ausgebliebener Wahlen seit 2006, autoritärem Regierungsstil und Korruptionsvorwürfen. Parallel dazu erstarkten in Israel rechte und religiös-nationalistische Strömungen, was eine Verhandlungslösung zusätzlich erschwerte.
Wer prägt den Konflikt? Akteure und Interessen
Auf palästinensischer Seite dominiert die Hamas in Gaza, die Israel nicht anerkennt und bewaffneten Widerstand legitimiert. Im Westjordanland hält die Fatah/PA formal die Verwaltungsmacht, leidet aber unter einer tiefen Repräsentationskrise. Der Palästinensische Islamische Dschihad agiert als radikale, eng mit dem Iran verbundene Kraft. Auf israelischer Seite bestimmen wechselnde Koalitionen – in den letzten Jahren zunehmend rechts-religiös-nationalistisch – den Kurs, während sicherheitspolitische Institutionen wie IDF, Shin Bet und Mossad operativ dominieren.
International und regional sind die USA als Sicherheitsgarant Israels, die EU als wichtiger Finanzier der PA, Ägypten und Katar als Vermittler sowie der Iran als Unterstützer von Hamas/PIJ zentrale Spieler. Diese Gemengelage aus fragmentierten palästinensischen Machtzentren, israelischer Innenpolarisierung und widersprüchlichen regionalen Interessen hat die politische Blockade über Jahre stabilisiert.
Warum der Friedensprozess scheiterte
Der Oslo-Prozess schuf Institutionen, aber keine Lösung: Die Finalstatusfragen wurden vertagt, die territoriale Fragmentierung im Westjordanland durch den fortgesetzten Siedlungsausbau vertiefte sich, die palästinensische Führung spaltete sich. Gewaltspiralen und regionale Machtverschiebungen – etwa der Iran–Israel-Konflikt – sowie arabische Normalisierungsschritte mit Israel überformten die Agenda. Die Folge war ein Prozess ohne glaubwürdigen Endpunkt – und somit ein Nährboden für Radikalisierung, politische Müdigkeit und internationale Resignation.
7. Oktober 2023 als Symptom – und als Schock
Der Hamas-Angriff offenbart die Summe mehrerer, lange ignorierter Strukturprobleme: die humanitäre Zerrüttung Gazas unter Blockadebedingungen, das Fehlen einer legitimen, handlungsfähigen palästinensischen Führung, die sowohl militärisch Gewalt kontrollieren als auch politisch verhandeln könnte. Weitere Strukturprobleme offenbaren sich in der Erosion israelischer Abschreckung – verschärft durch innenpolitische Polarisierung und institutionelle Krisen, die im Nachgang des 7. Oktober auch von der israelischen Armee eingeräumt wurden – sowie in einer regionalen Ordnung, in der Iran und seine Verbündeten, aber auch arabische Vermittlerstaaten die Konfliktdynamik mitprägen.
Der 7. Oktober ist damit weniger ein Anfang als vielmehr der brutale Offenbarungseid eines jahrzehntelang dysfunktionalen Status quo.
Ausblick
Die danach einsetzende Kriegsphase – mit der Geiselfrage als politischem Nadelöhr, massiver humanitärer Not, regionalen Frontverschiebungen (Hisbollah, Iran, Huthi) und völkerrechtlichen Streitpunkten – verlangt neue Governance-Ideen, internationale Sicherungsmechanismen und eine Re-Legitimation palästinensischer Politik ebenso wie israelische Kurskorrekturen. Ohne klar definierte Endziele, überprüfbare Sicherheitsarchitekturen und verbindliche rechtliche Standards wird sich die Gewaltspirale wiederholen. Mit jedem Zyklus brutaler, komplexer und globalisierter.
Dr. Désirée Kaiser ist Lehrbeauftragte am Institut für Orient- und Asienwissenschaften der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn und gründete Ende 2024 die Consulting-Agentur »Future Focus MENA«.
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