Schuldenbremse für Rüstung entsperrt – nun gilt es zu liefern!
Bild: BDSV e.V.
Von Dr. Hans C. Atzpodien, Hauptgeschäftsführer BDSV e.V.
I. Frühjahr 2025: Zeitenwende 2.0
Es war kurz vor der Münchner Sicherheitskonferenz, als der neue US-Verteidigungsminister Hegseth bei einer NATO-Verteidigungsministerkonferenz in Brüssel das sagte, was man eigentlich bereits vorher im „Projekt 2025“ – einer Veröffentlichung der konservativen Heritage Foundation aus dem Jahr 2023 im Kapitel über das Pentagon – hätte lesen können: Die Europäer sollen fortan selbst für ihre konventionelle Rüstung sorgen! In München selbst folgte dann der vielbesprochene Auftritt des US-Vizepräsidenten J.D. Vance mit seinem Vorwurf, die Europäer nähmen es selbst mit ihren demokratischen Werten nicht so ernst. Danach wiederum entwickelte sich alles, was in dem denkwürdigen „Clash“ zwischen den Präsidenten Trump und Selenskyj im Oval Office seinen Kulminationspunkt fand.
Drei Jahre nach der von Bundeskanzler Olaf Scholz am 27. Februar 2022 ausgerufenen „Zeitenwende“ war dies nichts weniger als eine „Zeitenwende 2.0“, also eine Wendung, die wir wiederum glaubten verdrängen bzw. nicht zur Kenntnis nehmen zu können. Das wirklich dramatisch Neue an dieser „Zeitenwende 2.0“ liegt darin, dass sich – drei Jahre nach dem erneuten Völkerrechtsbruch durch die Russische Föderation – nun auch die USA über diese rechtlichen Kategorien hinwegzusetzen scheinen und gleichsam über die Europäer hinweg eine neue Achse Washington–Moskau schmieden.
Die Vertreter der Trump-Administration begründen diese Anerkennung russischer Handlungsweisen damit, dass die Ukraine den Krieg ja ohnehin nicht gewinnen könne und sie zudem den Fehler begangen habe, dieser Unausweichlichkeit nicht sofort zu Beginn des Krieges Rechnung getragen zu haben. Fazit: Wer sich nicht sogleich dem Stärkeren unterwirft, hat – selbst wenn er mit seiner völkerrechtlichen Position im Recht ist – das Recht auf Unterstützung oder Widerstand de facto verwirkt. Bliebe es dabei, so wäre dies eine neue Dimension des machtpolitischen Realismus, die alle völkerrechtlichen Bindungssysteme ad absurdum führen würde.
Genau darin liegt die Natur der „Zeitenwende 2.0“, die man gerne weiterdenken und auch bis nach Peking sowie zur Absteckung von Einflusszonen zwischen den Mächten weiterdenken kann, die sich machtpolitisch als ebenbürtig anerkennen.
Aus dieser aktuellen und absolut richtigen Einsicht heraus, dass in dieser augenblicklichen Weltordnung nur noch eigene Stärke zählt, haben die Koalitionspartner der künftigen Bundesregierung – nämlich CDU/CSU und SPD, sekundiert von Bündnis 90/Die Grünen – in ihren Beschlüssen, die sie noch dem 20. Deutschen Bundestag zur Abstimmung über eine Grundgesetzänderung vorgelegt haben, genau die richtigen Schlussfolgerungen gezogen. Das Ziel, endlich in kürzestmöglicher Zeit eine von allen Zwängen der Mangelverwaltung befreite Komplettausrüstung der Bundeswehr zu bewerkstelligen, muss das primäre Ziel unserer Gesellschaft sein, wenn wir weiter in unserer Lebensform existieren wollen.
Ebenso ist es richtig und zwingend, dass auch die Aufwendungen für den Aufbau einer gleichermaßen resilienten Zivilgesellschaft genauso von der Schuldenbremse ausgenommen wurden wie die Militärausgaben selbst. Beide Bereiche gehören untrennbar zusammen; sie bedingen sich gegenseitig. Schon heute sagt uns das Bundesamt für Verfassungsschutz unmissverständlich, dass wir angesichts der Angriffe auf unsere zivile Infrastruktur nicht mehr allein von „hybrider Bedrohung“ sprechen können, sondern dass wir uns hier bereits in einer Art von Kriegszustand befinden.
Ohne eine robuste Abwehrbereitschaft auf allen Feldern der zivilgesellschaftlichen Angriffe, wie wir sie tagtäglich erleben und noch schlimmer erleben könnten, nützt uns auch eine bestausgerüstete Bundeswehr nur bedingt. Insofern sind die Gesamtverteidigungsrichtlinien, der Operationsplan Deutschland, die Anstrengungen zur Verbesserung des Bevölkerungsschutzes und die Maßnahmen zur Cyberabwehr allesamt auch finanziell so zu dotieren, dass wir unsere bisherigen Defizite umgehend aufholen können.
II. Herausforderungen für die deutsche Sicherheits- und Verteidigungsindustrie
1. Die deutsche Sicherheits- und Verteidigungsindustrie muss und kann liefern!
In Zeiten, in denen es vor allem auf eigene Stärke ankommt, kann es schon aus diesem Grund nicht darum gehen, sich die Ausrüstung für Bundeswehr und Sicherheitsorgane irgendwo zusammenzusuchen. Nein, die Fähigkeit der eigenen – es sollte bewusst heißen „nationalen“ – Industrie, diese Ausrüstung zumindest weitestgehend selbst bereitzustellen, ist in sich ein wesentlicher Beitrag zu der geforderten Stärke Deutschlands.
Ein Käufer muss sich im Laden in die Schlange der Kaufinteressenten einreihen. Der aber, der die Produktion selbst in der Hand hat und steuert, kann die Reihenfolge bestimmen. Dies ist vor allem für Krisenzeiten ein maßgebliches Argument. Im vergleichsweise Kleinen haben wir es während der Corona-Pandemie bereits erlebt, was es bedeutet, wenn sich Grenzen plötzlich schließen und in elementaren Überlebensfragen jeder sich selbst der Nächste ist. Für solche Situationen muss man insbesondere dann vorsorgen, wenn es um das Überleben in einem Kriegsszenario geht.
Wie wir im Zweiten Weltkrieg gesehen haben, kommt es dann entscheidend auf die Fähigkeit an, die Fertigung von Rüstungsgütern nochmals an allen Ecken und Enden hoch zu eskalieren – teilweise auf Output-Zahlen, die man zuvor niemals für möglich gehalten hätte. Dies aber kann man nur von einer etablierten industriellen Plattform aus tun.
Deutschland hat in sehr vielen Feldern der Rüstung diese Voraussetzungen. Darüber hinaus gibt es in angrenzenden Feldern – wie im Automobilbereich – gerade jetzt freiwerdende Ressourcen, die unbedingt für Rüstung nutzbar gemacht oder gehalten werden müssen. Das Motto „Autos zu Rüstung“ muss zu einem gesamtgesellschaftlichen Aufbruch genutzt werden.
Deutschland hat sich nicht zuletzt durch die im Dezember 2024 erneut bekräftigte Definition national wichtiger und zu erhaltender „Schlüsseltechnologien“ im Bereich der Sicherheit und Verteidigung eine Plattform geschaffen, auf deren Grundlage der entsprechende Ressourceneinsatz strategisch konsistent gesteuert werden kann.
2. Die Industrie braucht belastbare Anforderungsdaten für ihre Planung
Das Vorhandensein von Ressourcen ist das eine, ein Masterplan zu deren möglichst effizienter und effektiver Nutzung das andere. In einer Situation, in der die europäischen NATO-Mitglieder per Schocktherapie lernen, dass sie in Sachen konventioneller Rüstung auf sich selbst gestellt sind, schalten sie nun augenblicklich in den Herstell- oder Kaufmodus um.
Die dänische Ministerpräsidentin Frederiksen wurde vor Kurzem im Magazin DER SPIEGEL mit der Weisung an ihre Militärbeschaffer zitiert: „Kaufen, kaufen, kaufen“. Wenn dies so ist, dann muss es jetzt die Aufgabe der großen EU-Mitgliedsländer mit eigener starker Sicherheits- und Verteidigungsindustrie – allen voran Deutschlands – sein, diese Bedarfe zu aggregieren und zu konsolidieren.
Es muss pro Produkt oder Produktfamilie schnellstmöglich eine Abnehmerkoalition der „willigen Kunden“ geformt werden, deren konsolidierte Bedarfe es der angesprochenen Industrie erlauben, ihre Produktionsplanung für die kommenden Jahre belastbar zu konzipieren. Weiß man auf Seiten der Industrie, für welchen Output in welcher Zeiteinheit man eine Fertigungsanlage auslegen muss, kann man unmittelbar mit der Umsetzung beginnen. Kommen hingegen immer wieder nacheinander einzelne Nachfrager auf die Industrie zu, ergibt dies ein „Patchwork“, führt zu Misshelligkeiten innerhalb der Kundenschlange und verhindert Effizienz und Effektivität in der Abarbeitung der Bestellungen.
Für Produkte, die Deutschland in seiner „Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsindustriestrategie“ als deutsche Schlüsseltechnologien eingestuft hat, wird es maßgeblich darauf ankommen, dass die kommende Bundesregierung mit dem zu erwartenden Nationalen Sicherheitsrat und dem BMVg-Rüstungsbereich genau diese Aufgabe meistert: nämlich schnellstens aggregierte und konsolidierte Abnahmezahlen gemeinsam mit anderen willigen EU-Nachfragern zusammenzubringen.
3. Die Dynamik unserer Wirtschaft, wenn sie Druck hat, ist nicht zu unterschätzen
Für die Umsetzung wird es entscheidend darauf ankommen, wie es der neuen Bundesregierung gelingt, die Kräfte der Wirtschaft so zu motivieren, dass die klassische Sicherheits- und Verteidigungsindustrie, aber auch die Auto- und Zulieferindustrie, die Bauwirtschaft, der Maschinen- und Anlagenbau sowie die beteiligten Bundesministerien und Landesregierungen miteinander in einen Aufbruchsprozess kommen, der in sich eine Dynamik entfaltet, welche die entscheidenden privatwirtschaftlichen Kräfte freisetzt.
Dazu müssen von der neuen Bundesregierung die richtigen Signale kommen – wie sie im Ansatz ja bereits mit der Entsperrung der Schuldenbremse für Militär und zivilgesellschaftliche Resilienz gesetzt wurden. Am Ende sind es – solange wir nicht von einem Verteidigungsfall sprechen, der andere rechtliche Möglichkeiten eröffnet – vor allem die privatwirtschaftlichen Initiativen, die uns als Bundeswehr und Zivilgesellschaft in kürzestmöglicher Zeit zum Ziel der kompletten Abschreckungs- und Verteidigungsbereitschaft bringen müssen. Wichtig ist, dass dieser Umschwung in der Stimmungslage alle gesellschaftlichen Ebenen durchdringt, damit z. B. auch die letzten sog. „Zivilklauseln“ an Hochschulen endlich fallen.
4. Es braucht sehr konkret verbesserte regulatorische Rahmenbedingungen
Nur anspornende Worte einer neuen Bundesregierung, auch wenn sie noch so eindringlich formuliert sein mögen, würden alleine nicht ausreichen, um die besagte Dynamik in der Umstellung auf deutlich mehr Output im Bereich der Sicherheits- und Verteidigungsrüstung zu erreichen. Hierzu bedarf es vielmehr auch konkreter Verbesserungen und Erleichterungen bei den regulatorischen Rahmenbedingungen. Diese betreffen sowohl das militärische Vergaberecht als auch genehmigungsrechtliche Erleichterungen – ähnlich denen, die im Jahr 2022 angesichts einer erwarteten Gasmangellage für die schnelle Errichtung von LNG-Terminals erreicht werden konnten.
Viele dieser Verbesserungen sind bereits in der im Dezember 2024 verabschiedeten „Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsindustriestrategie“ angelegt, bedürfen aber nun der konkreten Umsetzung in Form eines umfassenden „Rüstungsbeschleunigungspakets“. Manche dieser Rahmenbedingungen haben ihre Wurzeln in europarechtlichen Bestimmungen, die daher mit in den Blick genommen werden müssen. Glücklicherweise werden diese Themen aktuell in dem von der EU-Kommission am 19. März 2025 veröffentlichten „Joint White Paper for European Defence Readiness 2030“ angesprochen. Doch auch hier lässt die tatsächliche regulatorische Umsetzung noch auf sich warten.
III. Fazit
Wenn die neue Bundesregierung hoffentlich bald ins Amt kommt, eine aktive Rolle in EU-Europa übernimmt und es ihr gelingt, schnell ihre eigenen Rüstungsbedarfe zu artikulieren und mit anderen europäischen Nachfragern zu aggregieren – gerne unterstützt durch die EU-Kommission –, dann kann auch die Industrie rasch in die Lage kommen, ihre Kapazitäten weiter zu erhöhen und damit ihre wichtige Funktion als Ausrüster unserer Streitkräfte und Sicherheitsorgane zügig weiter auszubauen.
Die gesamtwirtschaftliche Situation in Deutschland, die zu einem Rückgang der Auslastung in der Auto- und Automobilzulieferindustrie führt, kann und muss nun als Chance genutzt werden, um die Serienfertigung von Autoteilen in eine Serienfertigung von Komponenten und Produkten zu transformieren, die uns helfen, unseren Weg zur Abschreckungs- und Verteidigungsfähigkeit umso schneller zurückzulegen. Deutschland hat dazu die Kraft – und auch die Mittel!
Dr. Hans Christoph Atzpodien ist seit 2017 Hauptgeschäftsführer des BDSV. Zuvor war er in leitenden Management-Positionen im thyssenkrupp-Konzern tätig, darunter von 2007 bis 2012 als CEO der Sparte thyssenkrupp Marine Systems sowie von 2012 bis 2015 als CEO der Business Area thyssenkrupp Industrial Solutions mit einem Umsatz von 6 Mrd. €. Im Jahr 2009 gehörte Dr. Atzpodien zu den Mitgründern des BDSV, desssen Vorstand er seit der Gründung bis zum Jahr 2016 angehörte, davon ein Jahr als Präsident des Verbandes. Dr. Atzpodien ist gelernter Jurist und verfügt zudem über einen akademischen Abschluss in Politik- und Verwaltungswissenschaften.